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Warum Laufen glücklich macht

Laufen ist eine Art Behandlungsmöglichkeit der Psyche mit sich selbst, sagt der Diplom-Psychologe Andreas Marlovits. Für sein Buch "Laufpsychologie. Dem Geheimnis des Laufens auf der Spur" hat er mehr als 100 Läufer "auf die Couch gelegt" und in Tiefeninterviews wichtige Erkenntnisse über die psychologischen Vorgänge beim Laufen gemacht. Was bewirkt das Laufen in uns, warum macht Laufen glücklich? Der österreichische Wissenschafter stellt sich im Interview den Fragen von SCC-RUNNING.


Warum laufen immer mehr Menschen?


Andreas Marlovits: Es gibt zwei Grundmotivationen die paradoxer Weiser sehr gegensätzlich sind: Zum einen haben die Leute immer das Gefühl, dass in ihrem Leben etwas stagniert, dass ihr Leben durch ihre Arbeit monoton ist und dass sie dick und unbeweglich sind. Mit dem Laufen können sie dieses Gleichbleiben durchbrechen, sie kommen in Bewegung und dadurch bewegt sich im wahrsten Sinne des Wortes etwas in ihrem Leben. Andererseits fühlen sich viele Menschen unglaublich gestresst und erleben ein Übermaß an Mobilität. Auch dieses Gefühl wollen sie mit dem Laufen abschwächen. Wir haben es also mit zwei sehr unterschiedlichen Ausgangslagen zu tun, die gleichermaßen mit dem Laufen ein Ventil erhalten.


Was bewirkt Laufen in uns? Warum taugt Laufen als Ventil für diese sehr unterschiedlichen Ausgangssituationen?


Andreas Marlovits: Laufen ist eine Art von Behandlungsmöglichkeit der Psyche mit sich selbst. Laufen schafft doppeltes zu bewirken - zum einen kann man Zustände der Stagnation auflösen, zum anderen aber auch Stresszustände toll in den Griff bekommen. Hier hat Laufen eine meditative Wirkung. Es gibt wenige Sportarten, mit denen diese Wirkung erzielt werden kann.


Was unterscheidet Laufen in diesem Zusammenhang von anderen Ausdauersportarten?


Andreas Marolvits: Durch die Sicherheit des Rhythmus, der immer wiederkehrenden und gleich bleibenden Bewegung, stellt Laufen stellt in seinem Kern einen sicheren Rahmen zur Verfügung, der dazu führt, dass man eine Freiheit im Kopf erfährt. Man muss beim Laufen über nichts nachdenken, es läuft sich von selbst und es denkt sich auch von selbst. Beim Radfahren zum Beispiel muss man vielmehr auf seine Umgebung achten, auf rote Ampeln und andere Verkehrsteilnehmer. So lässt sich auch beobachten, dass viele Läufer immer wieder die gleiche Strecke laufen, eine Strecke, auf der sie sich fast blind bewegen können.


Viele Läufer erleben ein Gefühl des Glücks beim Laufen. Welche Rolle spielen dabei Endorphine?


Andreas Marlovits: Man muss ganz klar sagen, dass Endorphine wenn überhaupt erst nach einer sehr langen Trainingszeit, etwa nach 30 bis 35 Kilometern, als Erklärungsmuster dienen könnten, alle anderen Aussagen sind wissenschaftlich nicht haltbar.


Wie sehen die psychologischen Erklärungsmuster für diese Glücksgefühle aus?


Andreas Marlovits: Aus psychologischer Sicht ist der monotone Rhythmus das Glückshormon, denn er schafft eine Art Verschmelzung des Läufers mit der Welt. Er fühlt sich eins mit der Welt. Das genau ist die Mechanik, die dazu führt, dass man sich momenthaft glücklich fühlt. Ein anderer Ausdruck dafür ist das flow-Erleben. Wir haben diese Erkenntnisse aus einer Studie, bei der wir Läufer im wahrsten Sinne des Wortes auf die Couch gelegt haben. Dabei haben wir Tiefeninterviews mit mehr als 100 Läufern geführt. Das ist eine sehr große Anzahl für eine qualitative Studie, so dass wir sehr repräsentative Ergebnisse haben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Laufen auch bei Depressiven als erfolgreiche Therapie dienen kann, denn diese fühlen häufig eine sehr große Differenz zwischen sich und der Welt. Wenn man es schafft, diese Menschen zum Laufen zu bringen, dann hat man bereits einen wichtigen Therapieerfolg erzielt.


Unterziehen sich Läufer, die über die Marathondistanz gehen, einem höheren psychologischen Druck?


Andreas Marlovits: In dem Moment, in dem sich ein Läufer entscheidet, einen Marathon zu laufen, setzt er sich einem sehr hohen Ziel aus. In der Regel erzählt er sein Vorhaben im Freundeskreis und baut dadurch zusätzlichen Druck auf. Wenn er nicht laufen würde, dann würde ein großer Imageschaden entstehen.


Und wie sieht es im Wettkampf aus?


Andreas Marlovits: Beim Marathon selbst laufen wir in eine Existenzerfahrung hinein. Spätestens bei Kilometer 30 bis 35, wenn der berühmte Mann mit dem Hammer kommt und unter Schmerzen nichts mehr geht. Ähnliche existenzielle Situationen erleben wir in unserem sehr gesicherten Leben nur bei der Geburt eines Kindes und im Zusammenhang mit dem Sterben. Während des Marathonwettkampfes rettet man sich aus dieser Situation heraus, in dem man sich auf den Applaus der Zuschauer konzentriert und der Aufmunterung von Freunden überlässt. Man sucht sich von Anderen Trost, ähnlich wie in der Religion. Wenn es uns schlecht geht, dann haben wir früher nach Gott gerufen. Heute sind es die Zuschauer.


Ist Laufen eine Art Religionsersatz?


Andreas Marlovits: Es gibt ganz eindeutige Parallelen. Die großen Marathonrennen finden zum Beispiel im sonntags vormittags statt, zu einem Zeitpunkt wo wir früher in die Kirche gegangen sind. Wir thematisieren dabei unser persönliches Leiden.


Gehen Männer und Frauen mit der Erfahrung des Leidens gleichermaßen um?


Andreas Marlovits: Nein, interessant ist, dass Männer und Frauen unterschiedlich mit dieser existenziellen Erfahrung umgehen. Männer halten sich sehr an sich selbst, nach dem Motto „Ich muss das alleine schaffen“. Frauen hingegen finden schneller zur Hilfe der Zuschauer und kommen dadurch oft mit weniger Schmerzen über die Strecke.


Welche weiteren Unterschiede gibt es zwischen Männern und Frauen beim Thema Laufen?


Andreas Marlovits: Grundsätzlich neigen Männer dazu schneller zu laufen. Sie orientieren sich stärker an der Leistung und halten einen passiven Zustand schwerer aus. Frauen nutzen Laufen eher zum Austausch im Sozialverband. Frauen laufen eher in der Gruppe und reden wesentlich mehr beim Laufen. Wenn Männer in der Gruppe unterwegs sind, dann laufen sie häufig stumm nebeneinander her.


Welche Tipps gibt es für die Marathonvorbereitung aus psychologischer Sicht?


Andreas Marlovits: Es gibt einen übergreifenden Tipp: Wenn sich jemand aus der Familie entschließt Marathon zu laufen, dann entsteht automatisch ein Zeitproblem und damit sehr schnell auch ein Beziehungsproblem. Wichtig ist daher, dass der Läufer seinen Partner oder seine Partnerin immer auch in die Vorbereitung mit einbezieht. Männern empfehle ich, die Genussaspekte eines Marathons stärker in den Mittelpunkt zu stellen und nicht nur auf schnelle Zeiten zu achten. Frauen dagegen können ruhig etwas leistungsorientierter an die Vorbereitung herangehen.


Wie viel Prozent des Leistungsvermögens macht die Psyche aus?


Andreas Marlovits: Eine solche Einteilung lässt sich nicht vornehmen. Man kann nichts machen, ohne dass die Psyche oder der Körper beteiligt wären. Niemand läuft ohne Kopf, aber viele kopflos. Und genau das ist das Schöne und Erholsame am Laufen.

"Laufpsychologie. Dem Geheimnis des Laufens auf der Spur" von Andreas Marlovits ist erschienen im LAS-Verlag, Regenburg.