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Leben fürs Laufen - Bemerkungen eines Realisten

Heinz Florian Oertel (73), über 40 Jahre Sportreporter fürs

DDR-Fernsehen und Radio, Berichterstatter von 17 Olympischen Spielen, 8

Fußballweltmeisterschaften und weiteren sporlichen Höhepunkten,

schreibt über seine Beziehung zum Laufen.

Leben fürs Laufen? Ja! Denn: Laufen ist Leben. Und eigentlich hilft

Laufen beim Über-Leben! Wem das zu viel an Freundlichkeit fürs lange

Laufen ist, der denke nach. Oder suche Rat bei den Großen unserer

Geschichte. Dies sind nur zwei Hinweise: Goethe fabuliert im 11. Gesang seines

"Reineke Fuchs", dass "Laufen besser als Faulen sei", und

Herder bestimmt in seinen "Palmenblättern", die auch schon

über 200 Jahre alt sind, "Wer nicht läuft, gelangt nie ans

Ziel".

An derlei Zusammenhänge und Lebensgrundsätzliches zu erinnern,

fällt mir als lebenslanger Verehrer langen Laufens nicht schwer. Damit

erkläre ich mich nicht zum Befangenen, sondern sehe mich als

Aufgeklärten, der seinen Weg vom glühenden Bewunderer, aber

bloßem Platoniker, zum Realisten fand. Kolehmainen, Nurmi, Zatopek und

viele andere halfen mir. Und solche Zeilen bedeuten immer wieder Danken.

1952 saß ich auf der Olympia-Tribüne in Helsinki. Mich

betäubte alles, was ich sah. Doch am meisten rüttelten mich die

Langläufe durcheinander. Emil Zatopeks Dreifach-Siege bleiben mir

unvergesslich. Als Reporter-Benjamin versuchte ich, seine Rundenrennen

über 5 000 und 10 000 Meter zu beschreiben, und dann den krönenden

Marathonsieg. Wenn ich später die Aufzeichnungsreste hörte,

schämte ich mich. Gegen das Kämpfen und Können der Zatopek,

Mimoun, Chataway, Schade, Anufriew ... erschienen mir meine Wortversuche

jämmerlich. Später hörte ich, dass auch ein Reporter wie Rolf

Warnicke, der schon 1936 von den Olympischen Spielen übertrug, seine

Schilderungsprobleme hatte. Na ja.

Ich trage das Helsinkierlebnis durch mein Leben. Dazu zählen auch die

Gespräche, die ich noch mit Hannes Kolehmainen und Paovo Nurmi, den

finnischen Herren, führen konnte. Beide entzündeten das Olympische

Feuer im Stadion und alles animierte mich, noch einmal deren

Läuferlebensläufe zu rekapitulieren. Kolehmainen rannte und siegte

schon bei den Spielen von Stockholm, 1912, und er war noch und wieder 1920 in

Antwerpen dabei, als Nurmi seine Riesenkarriere begann. Genug - alleine mit

deren Geschichte ließe sich eine ganz Langlaufgeschichte füllen.

Emil Zatopek sah ich noch in Melbourne, 1956, wieder. Dort dominierte

allerdings ein neuer Stern den Langlaufhimmel, Wladimir Kuz. Der hatte von

Emils Trainingstorturen und Siegeswillen gelernt, und er ließ den

gleichfalls Großen von Pirie bis Kovacs keine Chance. Emils 6. Platz im

Marathon besiegelte das Ende seiner glanzvollen zehn Wettkampfjahre. Auch

danach sah ich ihn oft wieder. In Prag, wo er wohnte, in Berlin, bei

Läufen da und dort, wo er bis zu seinem Tod, 2000, immer wieder als

Starter und Ehrengast erschien und viele Menschen mit seiner

Lebensfreundlichkeit und schwejkischem Humor faszinierte. Ihm, vorrangig ihm,

verdanke ich den Schritt vom Bewunderer zum Mitmacher.

Als Pennäler hasste ich alles Rennen, was über eine Stadionrunde

hinaus ging. 1000 Meter, Zensuren-Pflicht, rannte ich in ca. 3.20 min, was

weiß Gott für einen 16jährigen keine Spitzenzeit war. Und

später, in verhasster Kriegszeit, musste ich einmal 3 000 m laufen. Dabei

geriet ich auf dem Kaserengelände zum Betrüger. Immer, wenn sich der

halbe Kompaniepulk durch eine Kurve quälte, ließen sich vier,

fünf hinter schützenden Büschen fallen, blieben bis zur

nächsten Runde dort schnaufend liegen, um dann wieder mit zu rennen. So

schaffte ich, alles in allem, vielleicht knappe 2 000 Meter, aber am Ende eine

verblüffend gute Zeit ... Schnee von gestern.

Emils Keuchen, Schades ziemliche Eleganz, Piries Asketenstil, und, und ...

halfen mir, es viel später endlich auch mit eigenem langen Laufen zu

versuchen. Vom Beschreiber zum Mitleider. Das führte zu neuem

Reporterempfinden und schließlich auch zu neuer, besserer

Lebensqualität. Mithin, ich danke den Matadoren, die ich kennen lernen

durfte, mindestens doppeltes Glück.

Glücklichmacher wurde auch Hans Grodotzki. Jetzt, am 4.4.2001, feiert

der gebürtige Thüringer, der aber seit 45 Jahren in Potsdam lebt,

seinen 65. Geburtstag. Anlass genug, ihn zu grüßen und zu danken.

Seine Silbersiege von Rom 1960, als Zweiter hinter Halberg über 5 000 m

und Bolotnikow über 10 000 m, trieben mich in Reporter-Euphorie. Nach

Schades drittem Platz in Helsinki schaffte Hans das bisher Größte,

was einem deutschen Langstreckler gelang. Und er lief als vorbildlicher Stilist

und blieb bis auf den Tag ein stets bescheidener Mann.

Zig Geschichten, dutzende Namen, ließen sich anschließen. Von

Bikila Abebe, Lasse Viren bis Waldemar Cierpinski, Katrin Dörre, Jörg

Peter. Alle besitzen meine ungebrochene Verehrung. Dies gerade jetzt und hier

zu erzählen, gilt dem bevorstehenden nächsten BERLIN-MARATHON. Weil

es tausendfach bewiesene Tatsache ist, gehört es sich, auch hier zu

erklären: Dies ist eine der schönsten Laufveranstaltungen der Welt

geworden. Wenn sich auch, und tausendmal leider, in den zurückliegenden

Jahrzehnten, seit Helsinki, Melbourne, Rom, die Läuferwelt

veränderte, Geld zum obersten Doping und anderes Dopen zur

selbstmörderischen Krankheit wucherte, der Sport an sich und langes Laufen

sind nicht totzukriegen. Solche Läuferfeste, wie das von Berlin, beweisen

es.

Auch, wie alle Läufertreffs - hoffentlich ewiglich - Menschen friedlich

und freundlich zusammenführen. 1990, nach endlichem Mauerfall, lief ein

Läuferrekordfeld durch ganz Berlin. Dies miterlebt zu haben zudem in einer

damals gemeinsamen Radioübertragung von SFB und Berliner Rundfunk, dem ich

über 40 Jahre zugehörte, zählt mit zum Unvergesslichen meiner

Lebens- und Laufgeschichte.

Dr. Heinz Florian Oertel