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Läufer-Geschichten (5): Wenn ich das schaffe, kann ich alles schaffen!

Irgendwo hatte ich gelesen,

dass der Neumond ein günstiger Zeitpunkt ist, um schlechte Gewohnheiten auf zu

geben. Im letzten Jahr traf dieser Neumond genau auf meinen 45. Geburtstag. Also die

beste Gelegenheit, um endlich mit dem rauchen auf zu hören - dachte ich mir. Es

stand nur nirgends so genau, dass ich täglich Mordgelüste haben würde und

Fressattacken mich im Minutentakt plagen würden. Aufgeben war aber nicht - Frau

hat schließlich auch ihren Stolz.


Als ich mich bei einem Freund über diese doch anstrengenden und

nervenaufreibenden Nebenwirkungen beklagte, meinte er wohl, er müsste mein

Selbstbewusstsein stärken: "Gereizt bis zur Mordlust? Endlich eine gesunde

Einstellung Deinen Mitmenschen gegenüber. Du hast Fressattacken? Dann fühlst Du

Dich bestimmt bald an wie ein Samtkissen, rund und weich. Schööööön! Mach weiter

so." Ohne mich! Also erst mal die Fressattacken überlisten. Die

Mordgelüste müssen warten. Ab da habe ich täglich einen riesigen Trog mit Obst

und Gemüse in mundgerechten Happen direkt neben dem Computer am Arbeitsplatz

postiert. Allerdings muss da irgendwer heimlich mit gefuttert haben, so schnell

wie der immer leer war.


Der nächste Ratschlag von einem anderen Freund lautete: "Fang doch an mit

Laufen. Das lenkt ab und hilft Dir Deine Gereiztheit ab zu bauen." Na gut,

probieren kann man es ja mal. Ab in den nächsten Sportladen und irgendein paar

Laufschuhe erstanden. Im nach hinein weiß ich, dass die Beratung hätte besser

sein können ...

Und dann bin ich los gelaufen, in der Nähe meiner Wohnung schön am Rhein

entlang. Nur, nach den ersten 500 Metern habe ich schon immer mit einem Auge

auf die Parkbänke geschielt und irgendwie war viel zu wenig Luft da. Der

Sonnenuntergang am Rheinufer ist jedoch auch ganz nett an zu sehen, und auf der

Seite standen keine Bänke. Die Hälfte meines Pensums war schon geschafft und

ich trabte angestrengt zurück. Und, die letzten Minuten konnte ich an nichts

anderes als an eine Zigarette denken. Das war bei den nächsten Laufrunden genau

so. Meine Mordgelüste hatten ein konkretes Ziel im Visier. Dieser Freund konnte

von Glück reden, dass er etwa achtzig Kilometer weit weg von Köln wohnt! Super

Tipp mit dem Laufen!


Zudem liefen mehrere Damen im fortgeschrittenen Rentenalter des Öfteren mal

eben locker an mir vorbei. Bis dahin hatte ich mich für relativ sportlich

gehalten, Fitness-Studio, öfter auch mal mit dem Rad unterwegs. Allerdings

hatte ich nie Ambitionen zu Ausdauersportarten. Ewig irgendwo lang zu laufen

nur für die Fitness, erschien mir furchtbar langweilig. Und dafür vielleicht

auch noch morgens eher aufstehen, ein sehr abwegiger Gedanke. Das letzte mal

längere Strecken am Stück bin ich vor etwa zwanzig Jahren mit meiner damaligen

Freundin Birgit gelaufen. Drei bis vier Wochen bevor wir mit ein paar

befreundeten Jungs ins Gebirge zum Wandern fahren wollten, haben wir zwei mal

die Woche abends unsere Runden im Park gedreht. Schließlich wollten wir uns von

den Pappnasen nicht jeden Tag zehnmal anhören müssen, dass wir zu lahm sind und

hinterher hängen. Da war er wohl auch schon, der Stolz - nicht klein bei zu

geben.


Trotz Luftnot, Sehnsucht nach Nikotin und Mordgelüsten lief ich regelmäßig

weiter, nach und nach wurden die Distanzen länger und das Tempo etwas flotter.

Zumindest hat mir der achtzig Kilometer entfernt wohnende Freund viele gute

Tipps gegeben, wie ich mein Lauftraining langsam steigern kann. Nach Köln ist

er nur sehr selten gekommen und nie lange geblieben. Wahrscheinlich hat er sich

nie so ganz sicher gefühlt, vor allem wenn er mit dem Rücken zu mir stand oder

saß.


Etwa ein Jahr später wollte ich endlich wissen, was ich so schaffen kann. Also

habe ich mich zu meinem ersten 10-km-Lauf angemeldet. So richtig konnte ich mir

nicht vorstellen, wie lang denn jetzt zehn Kilometer sind, wenn man sie am

Stück läuft. Meine Trainingsläufe habe ich immer nach Zeiteinheiten eingeteilt

und wusste nie so genau, wie viel Kilometer ich dabei zurückgelegt habe. Ein

bisschen aufgeregt war ich schon bis der Startschuss fiel. Und dann war ich

stolz wie sonst was, als ich die zehn Kilometer unter einer Stunde geschafft

hatte.


Das lief doch ganz gut, da könnte ich ja vielleicht auch mal einen Halbmarathon

versuchen ... Dem entfernten Freund war verziehen. Schließlich war er der

einzige, den ich kannte, der mir einen Trainingsplan dafür machen konnte. Den

hat er dann vorsichtshalber telefonisch durch gegeben.


Sechs Wochen später fuhr ich ins Bergische Land, nicht weit von Köln,

zu meinem

ersten Halbmarathon rund um die Agger-Talsperre. Wunderschöne

Landschaft,

herrlicher Sonnenschein, nicht zu heiß - einfach ein wunderschöner Tag.

Ich wollte

einfach nur ankommen, wenn möglich nicht als letzte und wenn ich mit

zweieinhalb Stunden durchkommen würde, das wäre echt super. Nach etwas

mehr als

der Hälfte der Strecke habe ich mich schon ab und an gefragt, was ich

mir da

eigentlich eingebrockt habe. Ich dachte nur, die zieht sich aber, die

Kiesgrube

... Nach 2:17 und ein paar Sekunden war ich tatsächlich über die

Ziellinie -

eben ein wunderschöner Tag.                                                                                                                                           

Mittlerweile bin ich sicher, dass dieses Laufen ein ziemliches Suchtpotential

hat. Ist aber legal, soweit ich weiß. Häufig sperrt sogar die Polizei die

Strecken für diese Durchgeknallten ab, damit sie ungestört süchteln können.

Jedenfalls saß ich noch am selben Abend an meinem Rechner und stöberte im

Internet nach den nächsten Laufterminen. Nun ja, da gebe es ja noch den

Marathon, der in meinem unbekümmerten Hinterkopf rein rechnerisch als zweimal

ein Halbmarathon herumgeisterte. So ganz verausgabt war ich letztendlich nicht

gewesen. Ich musste erst mal die Distanz für mich austesten und rein

theoretisch hätte ich ja noch ein bisschen weiter laufen können...


Eine Woche war noch Zeit, um sich mit der günstigsten Startgebühr anzumelden -

für den real,- BERLIN-MARATHON. Dort habe ich ein paar Jahre gelebt und

Christine, eine meiner besten Freundinnen, schon zwei Jahre nicht mehr besucht.

Eigentlich würde ich schon sehr gerne einmal wieder nach Berlin fahren. Aber

knapp über zweiundvierzig Kilometer laufen, um genau zu sein 42,195 Kilometer,

schon heftig diese Vorstellung. Und wenn ich das schon mache, dann will ich da

nicht fünf Stunden oder so rumeiern, da nimmt die Strecke ja erst recht kein

Ende. Was wiederum heißt, dass ich öfter und intensiver trainieren müsste. Seit

einiger Zeit bin ich freiberuflich auf dem Arbeitsmarkt unterwegs und brauche

deshalb neben der eigentlichen Arbeit noch viel Zeit - um einen Kundenstamm

aufzubauen, Informationen einzuholen, mich fachlich auf dem laufenden zu halten

und so weiter. Am besten wäre wohl ein Sponsor, in meiner Altersklasse

wahrscheinlich am ehesten ein Hersteller für Stützstrümpfe. Also den Gedanken

brauchte ich gar nicht weiter verfolgen. So nach und nach manifestierte sich

jedoch ein anderer Gedanke, der sich irgendwie zur fixen Idee entwickelte:

"... wenn ich das schaffe, kann ich alles schaffen!". Dieser Gedanke

ließ mir keine Ruhe mehr, vor allem während meiner ewig langen Läufe, bei denen

mich niemand begleiten wollte, geisterte er mir ständig durch den Kopf. Da hat

man jede Menge Zeit zum nachdenken. Wenn ich es schaffe, das zu organisieren,

Training, Job, Freunde, Familie - dann kann ich wirklich alles schaffen. Ich

habe mich noch in derselben Woche angemeldet, jeeehhh!


Sieben Wochen nach dem ersten Halbmarathon bin ich mit einer Freundin, die ich

bei einem meiner Trainingsläufe wieder entdeckt habe, den nächsten gelaufen,

immerhin knapp fünfzehn Minuten schneller als beim ersten Mal. Geht doch!

Der entfernte Freund hat es nicht geschafft, mir den versprochenen

Trainingsplan für den Marathon durch zu geben. Schade eigentlich, für den Halbmarathon

hat das wunderbar funktioniert. Da musste ich eben selber was zusammen basteln.

Mittlerweile trainiere ich viermal pro Woche, lange Läufe, langsame Läufe,

schnelle Läufe, Fahrtenspiele - was man halt so macht, damit die Startgebühr

nicht zum Fenster raus geschmissen ist. Ich stehe sogar morgens eher auf! Wenn

mir das voriges Jahr jemand prophezeit hätte, dem hätte ich eine weiße Jacke

ohne Ärmel empfohlen. Wo ich doch eigentlich mindestens meine acht Stunden

Schönheitsschlaf brauche. Und wenn mir dann noch jemand gesagt hätte, ich würde

versuchen einen Marathon zu laufen - total durchgeknallt, hundert Prozent!


Inzwischen steht für mich fest: "... wenn ich das schaffe, kann ich alles

schaffen!"

 

PETRA NEUMANN