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Erziehung durch Sport

Die Europäische Union hat das Kalenderjahr 2004 zum

“Europäischen Jahr der Erziehung durch Sport 2004“ ausgerufen.

In Leipzig fand am 19. Januar 2004 in Anwesenheit von Bundesbildungsministerin

Edelgard Bulmahn, DSB-Präsident Manfred von Richthofen und

NOK-Präsident Dr. Klaus Steinbach mit rund 300 Gästen die nationale

Auftaktveranstaltung statt. Das Einführungsreferat, mit dem auf die

prinzipiellen Möglichkeiten des Sports für Erziehung aufmerksam

gemacht werden sollte, hielt Dr. Detlef Kuhlmann, Sportwissenschaftler an der

FU Berlin und seit vielen Jahren zuständig für das Ressort Kultur

beim real,- BERLIN-MARATHON und SCC-RUNNING. Beim diesjährigen Verbandstag

des Berliner Leichtathletik-Verbands am 1. April 2004 hielt der 49jährige

Marathonläufer die folgende leicht gekürzte Version seines Leipziger

Vortrags:

Erziehung steht als ein weiter Sammelbegriff für alle

Maßnahmen und Prozesse, die den Menschen befähigen sollen, seine

Kräfte und Möglichkeiten zu entfalten und zu verbessern. Damit ist

die Herausbildung von wünschenswerten Dispositionen und

Handlungsorientierungen gemeint: die Strukturierung des Denkens, Handelns und

Fühlens mit zunehmender Selbstbestimmung des einzelnen. Erziehung ist

jedoch flüchtig, nicht greifbar und in seinen Absichten riskant, weil auch

andere Wirkungen eintreten können als die, die ursprünglich

beabsichtigt waren. Erziehung möchte Menschen - insbesondere junge

Menschen - in die Lage versetzen, ein gelingendes Leben zu führen, soweit

es von ihnen selbst abhängt.

Sport steht als ein weiter Sammelbegriff für jenes auf

Bewegung basierende Kulturgut unserer Zeit, das unser gesellschaftliches Leben

immer vielfältiger durchdringt - hierzulande, bei unseren

europäischen Nachbarn und draußen in der ganzen Welt. Das

vorgegebene Motto grenzt aber den Sport nicht weiter ein - weder auf bestimmte

Personengruppen wie Kinder, Jugendliche oder ältere Menschen, noch ist

ausdrücklich nur vom Sport in bestimmten Instanzen wie Schule oder Verein

die Rede. Wir dürfen uns also alle angesprochen fühlen …

Wie passen nun Erziehung und Sport so allgemein zusammen? Jetzt muss endlich

die Sache mit der Präposition kommen. Keine Angst, es folgt keine Lektion

in Grammatik: Wer jedoch Erziehung durch Sport als Slogan für ein

Europäisches Jahr ausruft, der wird sich genauestens überlegt haben,

warum er sein Anliegen ausgerechnet mit dieser Formel einprägsam auf den

Punkt bringen und im wahrsten Sinne des Wortes durchdringen will. Was

also kann Erziehung durch Sport demnach heißen? Ich muss Sie noch ein

wenig vertrösten, bevor ich dazu etwas durchsickern lasse, weil ich

den zweiten Schritt nicht ohne den ersten machen kann. Denn wer auf Erziehung

durch Sport setzt, muss zunächst erst einmal beim Sport selbst ankommen

und in ihm aktiv werden. Erziehung durch Sport setzt nämlich

Erziehung zum Sport voraus. Das eine ist nur zusammen mit dem anderen denkbar

und realisierbar: ohne zum kein durch!

Erziehung zum Sport meint dann zunächst einmal die

Einladung und Anleitung zum Sporttreiben und beinhaltet primär die

Vermittlung von unterschiedlichen Sportarten und weiteren Bewegungsformen.

Dabei geht es um die Herausbildung von Fähigkeiten und den Erwerb von

Fertigkeiten, die in ihrer methodischen Ausgestaltung auch als Üben,

Trainieren, Spielen und Wettkämpfen oder noch allgemeiner als Lernen von

Sport daherkommen. Erziehung zum Sport zielt insgesamt auf ein umfassendes

Qualifikationsprofil in den verbreiteten sportbezogenen Kulturtechniken, also

auch und nicht zuletzt in der Leichtathletik. Wer in dieser Hinsicht auf

Erziehung zur Leichtathletik setzt, der erwartet zuallererst fachliche

Anleitungen, will disziplinspezifische Kompetenzen erwerben, verbessern oder

erhalten. Dabei soll der Sport soll den Menschen zugute kommen. Letztlich zielt

Erziehung zum Sport darauf, dass Sport ein integratives Element für ein

selbst bestimmtes und gelingendes Leben wird.

Erziehung durch Sport basiert dann auf diesem humanen

Sport, meint jedoch mehr und allgemein gesprochen die Entwicklung weiterer

Kompetenzen, die irgendwie durch das Sporttreiben beeinflusst werden und

über das rein sportliche Handeln hinaus wirken können. Erziehung

durch Sport drückt die Erwartung aus, dass sich im Sport - also auch in

der Leichtathletik - manches lernen lässt, was man auch im übrigen

Leben gut gebrauchen kann. Erziehung durch Sport will Hilfen und Ressourcen

auch für andere Lebenssituationen entwickeln. Dafür lässt sich -

wie wir alle wissen - eine Vielzahl von unterschiedlichen Erwartungen

formulieren, worin der Erziehungsbeitrag bestehen soll: Er kann verschiedene

Dimensionen der Persönlichkeitsentwicklung betreffen (die kognitive, die

soziale, die emotionale). Er kann zur Steigerung des Selbstwertgefühls,

zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit, zur Unterstützung

prosozialen Verhaltens bzw. zum Aufbau und zur Pflege sozialer Netzwerke

beitragen - ja sogar zur Langzeit-Immunisierung vor Gewalt und Drogen.

Summarisch geht es bei der Erziehung durch Sport um die Förderung der

personalen Identität in sozialer Verantwortung, und zwar auf den Wegen und

mit den Mitteln des Sports.

Eigentlich müsste sich jetzt Euphorie breit machen … oder

schlägt sie vielleicht doch schon in Skepsis um: Ist das nicht alles ein

bisschen zu viel des Guten, was dem Sport und der Leichtathletik da durch

Erziehung aufgeladen wird? Die Antwort muss lauten: “Ja, aber!“ Ja,

weil es zwischen Erziehung zum Sport und Erziehung durch Sport keinen

Automatismus gibt. Das Auftreten gewünschter positiver Effekte kann

niemand garantieren. Sporttreiben bleibt immer ambivalent: Es kann z. B. das

Selbstvertrauen der Menschen stärken, aber auch schwächen. Doch diese

Gewissheit um die Ungewissheit ist kein hinreichender Grund dafür, die

Ansprüche einer Erziehung durch Sport zu vernachlässigen oder

vollends aufzugeben. Deswegen “Ja, aber!“ - denn: Die

Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer angestrebten Erziehung durch Sport ist

abhängig davon, unter welchen Bedingungen und in welchen sozialen

Kontexten, also in welchen situativen Arrangements der Sport der Menschen

tatsächlich stattfindet. Wie kommt also kommt die Leichtathletik zu den

Menschen? Es kommt darauf an, das Sporttreiben konkret und damit “vor

Ort“ möglichst erziehungsgedeihlich zu inszenieren.

Erziehung zum Sport ist das Terrain für Erziehung durch Sport. Ohne das

Erlebnis der sportlichen Tat ist die Erfahrung seiner förderlichen

Wirkungen nicht möglich. Ich wiederhole: ohne zum kein durch! Der Sport

kann aber immer nur als Teil zum Gesamten der Erziehung beitragen. Und eine

perfekte Erziehung gibt es schon gar nicht. Aber wie sagte doch neulich Franz

Beckenbauer in der Hamburger Bürgerschaft bei der Verleihung der

Ehrenbürgerwürde: “Wenn einer in die Nähe des perfekten

Menschen kommt, dann ist es Uwe Seeler“ (FAZ vom 28.11.2003). Erziehung

durch Sport - noch irgendwelche Fragen?

Es folgen nun Ausführungen zu den Beziehungen von Sport und Erziehung

auch in bildungs- und sportpolitischer Perspektive. Ein Europäisches Jahr

der Erziehung durch Sport hat schließlich nicht nur die Aufgabe,

lediglich einen akademischen Diskurs anzuregen. Vielmehr sind Notwendigkeit und

Dringlichkeit in der Schnittmenge von Erziehung und Sport als Aufgabenfelder

anzumahnen oder neu zu entdecken. Daher die konkrete Frage: Wo gibt es

Handlungsbedarf? Wenigstens eine Handvoll solcher Baustellen will ich im

architektonischen Grundriss kurz aufzeichnen und jeweils knapp erläutern.

Sie sind m. E. gekennzeichnet durch Wichtigkeit und Aktualität und dann so

formuliert, dass sich jeder von Ihnen als Multiplikator angesprochen

fühlen kann, wenn es seinen Bereich betrifft. Es ist also

ausdrücklich erwünscht, beizeiten tatkräftig Hand anzulegen. Die

Sammlung ist aber grundsätzlich erweiterbar und insofern

revisionsoffen.

(1) Wer Sport mit Erziehung verbindet, muss auch nach weiteren

Verbündeten suchen, die für die pädagogischen Möglichkeiten

des Sports offen sind: Akzeptanz!

Diese Baustelle klingt auf den ersten Blick trivial. Sie stellt eine

selbstverständliche Querschnittsaufgabe dar. Auf ihr bauen alle anderen

auf. Denn zu aller erst muss eine größtmögliche Akzeptanz

für das Anliegen von Sport und Erziehung sichergestellt bzw. wieder

hergestellt werden. Hier sind mehrere Ebenen zu nennen, die den Dialog

fördern helfen sollen: Zunächst ist zu fragen, welche Bereiche

überhaupt dazu gehören. Schule und Verein sind die beiden ganz

großen Instanzen, die das Anliegen von Erziehung durch Sport mit ihren je

unterschiedlichen Möglichkeiten aufgreifen. Aber: Sind etwa auch die

kommerziellen Anbieter von Fitness und Freizeitsport dazu zu zählen? Wie

steht es mit den Fanbeauftragten von Hertha BSC? Aber im Grunde kann jeder bei

sich selbst anfangen: Fühlen auch Sie sich verpflichtet, durch Sport zu

erziehen? Und wenn ja, wie suchen Sie nach weiteren Verbündeten? Damit

leite ich über zur zweiten Baustelle, wo die Frage der Akzeptanz geradezu

existenziell überlagert wird:

(2) Wer Sport mit Erziehung verbindet, muss auch dafür Sorge

tragen, dass der Sport aus öffentlichen Lern- und Lebensräumen nicht

gänzlich verschwindet: Legitimation!

Diese Baustelle kann ich gleich mit einem aktuellen Beispiel zementieren: In

den dunklen Novembertagen des letzten Jahres erblickte eine Studie der

Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft das Licht der bundesweiten

Medien-Öffentlichkeit: “Bildung neu denken. Das

Zukunftsprojekt“ konzipiert Schule völlig neu. Für die

Gesamtredaktion dieser Buchpublikation zeichnet der Erziehungswissenschaftler

Lenzen verantwortlich, derzeit Präsident der Freien Universität

Berlin und ehemals Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für

Erziehungswissenschaft. Lenzen wurde unterstützt von insgesamt 73

Experten, allerdings - soweit für mich ersichtlich - niemand aus dem

Sport. Vielleicht ist das ja genau der Grund dafür, warum vom Schulsport

hier nun nicht mehr die Rede ist.

Die Empfehlungen sehen allerdings vor, dass die motorische

Koordinationsfähigkeit über die körperlichen

Ausdrucksmöglichkeiten durch (wörtlich) “Tanz, Theater,

Akrobatik bis hin zu Fingerspielen“ den Bildungsprozess noch begleiten

soll. Konstitutiv ist das Fach Sport in der Schule - geschweige denn die

Leichtathletik - demnach nicht mehr. Ich treibe es ein wenig auf die Spitze:

Wenn erstmal dieses Zukunftsprojekt in Bayern, in Deutschland und gar in ganz

Europa Realität wird, wäre es geboten, ein internationales Jahr der

Erziehung ohne Sport auszurufen! So bleibt uns allen momentan nur die Hoffnung,

dass auch diese Studie zu denen gehört, nie niemals umgesetzt werden

(3) Wer Sport mit Erziehung verbindet, muss auch das Personal (die

“Erziehungsberechtigten“ im Sport) stark machen:

Qualifikation!

Wer Kinder, Jugendliche und überhaupt Menschen im Sport stark machen

will, der muss gleichzeitig dafür Sorge tragen, diejenigen stark zu machen

und stark zu halten, die andere stark machen sollen: also das Personal

qualifizieren! Es sollen Experten in der Sache sein, die der Erziehung zum

Sport nachkommen, und sie müssen auch die sich bietenden Chancen erkennen

und nutzen, um Erziehung durch Sport zu ermöglichen.

Auf dieser Baustelle lassen sich ganz gut die verbandlichen

Ausbildungsoffensiven abladen, die hier und da angekündigt bzw. schon auf

den Weg gebracht sind. Zuweilen wird sogar die Forderung nach einer

flächendeckenden formalen Qualifikation für das Lehrpersonal in der

Vereinsarbeit erhoben, und zwar mindestens auf der Basis der

Lizenzabschlüsse des verbandlichen Ausbildungswesens. Qualifikation

richtet sich als Aufgabe aber ausdrücklich auch an das professionelle

Personal für den Schulsport und die universitäre Ausbildung

zukünftiger Sportlehrergenerationen, um die man sich deswegen in Berlin

sorgen muss, weil das größere von zwei Sportinstituten derzeit

abgewickelt wird und niemand so recht weiß, wie der Bedarf an

Sportlehrkräften zukünftig gedeckt werden kann.

(4) Wer Sport mit Erziehung verbindet, muss auch seine Beiträge

markant positionieren, aber ebenso auf bestehende Defizite aufmerksam machen:

Evaluation!

Evaluationen geben Auskünfte über das Erreichen von Zielen. Wenn

Ziele nicht erreicht worden sind, also Anspruch und Wirklichkeit auseinander

fallen, dann müssen in aller Regel die Ziele zurückgeschraubt oder

die Anstrengungen zu ihrer Erreichung erhöht werden. Sie alles kennen

diese Sichtweise aus Ihrer Wettkampftätigkeit. Seit einiger Zeit wird

nämlich von verschiedenen Seiten Evaluationen im Sinne einer

kontinuierlichen Sportberichterstattung eingefordert. Der “Erste Deutsche

Kinder- und Jugendsportbericht“ stellt so gesehen nur den Anfang und eine

Art Prototyp für viele andere Berichte dar, die noch folgen müssen -

sei es für bestimmte Personengruppen, sei es für bestimmte Instanzen

und Sportanbieter, sei es kommunal, auf Länder- oder Bundesebene und im

zusammenwachsenden Europa. Eine kontinuierliche Berichterstattung über die

Leichtathletik hierzulande würde dann ebenfalls dazu gehören. Die

Verbreitung von Best-practise-Modellen könnte übrigens ein weiterer

Zugang sein, damit von Evaluation Qualitätsentwicklung ausgehen kann.

(5) Wer Sport mit Erziehung verbindet und dazu ein Europäisches

Jahr proklamiert, muss auch nach Möglichkeiten suchen, das Anliegen

über das Jahr hinaus zu sichern: Nachhaltigkeit!

Um ein letztes Mal das Bild von der Baustelle zu strapazieren: Mit dem

Aufstellen eines Baustellenschildes mit den Namen aller Projektbeteiligten

allein ist es nicht getan. Es kommt darauf an, das europäische Haus einer

Erziehung durch Sport mit seinen tragenden Säulen aufzubauen und die

einzelnen Stockwerke einzurichten. Dahinter steht die Frage: Was bleibt am 31.

Dezember 2004, wenn unser Europäisches Jahr der Erziehung durch Sport zu

Ende geht? Wie soll es dann weiter gehen? Nachhaltigkeit könnte ein

Prüfstein sein für das, was jetzt in Projekten und Programmen, in

Maßnahmen und Modellen überall anläuft, und zwar lokal,

regional, national und erst recht im internationalen Austausch und Vergleich.

Fragen nach der Akzeptanz, der Legitimation, der Qualifikation und der

Evaluation im Umfeld von Sport und Erziehung sollten dabei nicht ausgespart

werden, es sei denn, man ersetzt sie durch andere, die noch wichtiger sind.

Ganz zum Schluss noch einmal zurück auf das Motto Erziehung durch

Sport: Erziehung ist auch darauf ausgerichtet, die Beziehungen der Menschen

untereinander zu verbessern. Wo - wenn nicht im Sport - könnte das

authentischer stattfinden und intensiver erfahren werden? Beim Sport bewegen

wir uns in Beziehungen und beziehen uns auf die Bewegungen mit anderen

Menschen. Wir befinden uns auch in der Leichtathletik fortwährend in

Bewegungsdialogen, die sich von anderen Dialogen und alltäglichen

Bewegungen unterscheiden. Erziehung durch Sport kann ein fruchtbares Fundament

sein, für ein besseres Zusammenleben der Menschen, aber auch für

einen besseren Sport … und sicher auch für eine bessere

Leichtathletik. Diese Vision sollte uns auch in der Zukunft bewegen, und zwar

über das Europäische Jahr der Erziehung durch Sport 2004 hinaus!